Die kommunalen Gebiets-, Funktional- und Verwaltungsreformen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren in Deutschland umgesetzt wurden und u. a. dazu geführt haben, dass viele Dörfer ihre politische und administrative Eigenständigkeit verloren haben, sind in der Forschung bisher wenig betrachtet worden. Dieser Prozess kann aber durchaus als ein epochaler Veränderungsschritt bezeichnet werden, was deutlich wird, wenn man auf die Zahlen schaut. In Nordrhein-Westfalen wurden aus 2.324 kreisangehörigen Städten und Gemeinden 396 Städte und Großgemeinden, von denen sich 231 im Landesteil Westfalen-Lippe befinden. Ein bisher in der Forschung wenig betrachtetes Phänomen ist, dass durch diese kommunale Gebietsreform, so auch in Westfalen-Lippe, hunderte Dörfer damit auch statistisch unsichtbar geworden sind. Tatsächlich existiert keine Liste der Dörfer von Westfalen-Lippe, und auch wie z. B. die Einwohnerzahl zu einzelnen Dörfern der Gemeinden und Städte sind nicht zentral verfügbar. Diese „Lücke in der Statistik“ war maßgeblich Anstoß für das Forschungsvorhaben „Dörfer in Westfalen-Lippe – Bestandsaufnahme und Situationsanalyse“.

Mit dem Forschungsvorhaben werden folgende Ziele verfolgt:

• die Vollerfassung aller Dörfer in Westfalen-Lippe mit Daten und Angaben u. a. zur Einwohnerzahl, zur Ausstattung mit kommunaler Infrastruktur sowie zur politischen Partizipation und zum ehrenamtlichen Engagement,

• eine beispielhafte Erfassung und Bewertung von Veränderungs- und Entwicklungsprozessen in ausgewählten Dörfern in den verschiedenen Teilregionen von Westfalen-Lippe sowie

• die Ableitung von Empfehlungen für die Praxis der Dorfentwicklung mit einem besonderen Fokus auf das ehrenamtliche Engagement der Bürger, die Daseinsinfrastruktur und Förderprogramme für die Dorfentwicklung.

Um diese Ziele zu erreichen, wurde ein Mixed Methods-Forschungsansatz gewählt. Hierbei kommen sowohl quantitative als auch qualitative Methoden zur Anwendung. Konkret folgten einer Fragebogenerhebung tiefergehende Interviews.

Aber was ist eigentlich ein Dorf?

Tatsächlich existiert kein allgemeingültiges Verständnis oder gar eine eindeutige wissenschaftliche Definition für das Dorf, vielmehr ist das Verständnis von Dorf abhängig vom disziplinären Zugang. In der siedlungsgeographischen Forschung wird das Dorf als ländliche Gruppensiedlung ab einer Größe von ca. 100 Einwohnerinnen und Einwohnern bezeichnet, die über eine gewisse Grundausstattung an Infrastrukturen der Daseinsvorsorge verfügt. Im allgemeinen Sprachgebrauch und auch in diesem Beitrag wird der Begriff „Dorf“ als Synonym für alle ländliche Siedlungen verwendet, ohne nach Siedlungsform oder Größe zu unterscheiden. Das beschriebene Definitionsproblem ist vor allem auf die großen Veränderungen der Dörfer seit Mitte des 20. Jahrhunderts zurückzuführen. Während diese in der Vergangenheit durch die Land- und Forstwirtschaft und dorftypische Handwerksbetriebe geprägt waren, sind Dörfer heute sehr heterogen und oft nur noch Wohnort, aber nicht mehr Wirtschaftsstandort. Auch hat sich das Ortsbild vieler Dörfer in den letzten Jahrzehnten durch Neubautätigkeit, Umnutzungen sowie ortsbildverändernde Sanierungen erheblich verändert, sodass der ursprüngliche Ortsgrundriss und die dorftypische Baukultur vielerorts kaum noch erkennbar ist und das Dorf optisch immer mehr städtischen Siedlungen gleicht. Diese Entwicklung trifft insbesondere auf das Umfeld von Großstädten zu, wo aus Dörfern oft Stadtteile geworden sind. Die Frage, ob eine als Dorf gegründete Siedlung noch Dorf oder schon Stadtteil ist, war daher eine zentrale Herausforderung bei der Bestandsaufnahme der Orte.

Um dem Ziel, eine Liste der Dörfer zu erstellen, näher zu kommen, wurden alle Ortschaften im Karten- und Luftbild unter Verwendung des Geoinformationssystems für die integrierte ländliche Entwicklung (GISILE NRW) analysiert und unter Verwendung des Kriteriums „Lage im Raum – Siedlungszusammenhang“ wie folgt typisiert:

• Dörfer im engeren Sinne: Ortschaften mit einer Bevölkerungszahl von 10 bis 15.000, die physiognomisch als eigenständige Siedlung in der Landschaft eindeutig abgrenzbar und von Freiflächen (z. B. landwirtschaftlichen Nutzflächen oder Wald) umgeben sind.

• Dörfer im weiteren Sinne: Ortschaften mit einer Bevölkerungszahl von 10 bis 15.000 in Randlage von Städten sowie im urbanen Agglomerationsraum des Ruhrgebiets, die mit dem urbanen Siedlungskomplex bereits physisch verbunden sind, aber in Teilen auch noch an die freie Landschaft angrenzen. Bei diesen Ortschaften handelt es sich in der Regel um dörfliche Siedlungsgründungen, die im Zuge des Siedlungswachstums zu einem zumindest teilweise räumlich-integralen Bestandteil der Stadt geworden sind. Die Dörfer im weiteren Sinne weisen somit Merkmale von Dorf und Stadt auf.

In einem zweiten Schritt wurden im Rahmen einer quantitativen Befragung umfassende Informationen zu den Veränderungen und aktuellen Entwicklungen in den Dörfern erhoben. Im Besonderen wurden Aspekte der politischen Partizipation, neuer Engagementstrukturen und eingeschätzter Perspektiven für das Dorf untersucht. Zu diesen Themengebieten lagen vorher kaum valide Daten für die Kommunen in Westfalen-Lippe vor. Zur Erreichung dieses Ziels wurden alle hauptamtlichen Verwaltungen der 231 Städte und Gemeinden in Westfalen-Lippe mittels einer Online-Befragung um Antworten gebeten. Die Fragebögen wurden überwiegend persönlich von den Bürgermeistern beantwortet.

Ergänzend zu den Fragebogenerhebungen bei den hauptamtlichen Verwaltungen wurden in 11 Dörfern in den unterschiedlichen Teillandschaften von Westfalen-Lippe 25 Interviews mit ehrenamtlich tätigen Kommunalpolitikern sowie anderweitig engagierten Dorfbewohnern geführt. Während mit Hilfe der Fragebögen überwiegend quantitativ auszuwertende Fragen gestellt wurden, ging es in den mündlich durchgeführten Interviews um ausführlichere Darstellungen der ehrenamtlichen Tätigkeiten und den dazugehörigen dörflichen Kontext. Von Interesse war insbesondere die subjektive Bewertung der Lebensbedingungen von Menschen in ihren Dörfern in Bezug auf drei verschiedene Bereiche.

In der abschließenden Diskussion werden die Ergebnisse der quantitativen und der qualitativen Forschung zusammengeführt und Bezüge zum aktuellem Forschungsstand hergestellt. Die Studie „Dörfer in Westfalen-Lippe – Bestandsaufnahme und Situationsanalyse“ soll im Jahr 2025 als Band 45 der Buchreihe „Siedlung und Landschaft in Westfalen, herausgegeben von der Geographischen Kommission für Westfalen, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, veröffentlicht werden.

Auftraggeber der Studie: LWL Landschaftsverband Westfalen-Lippe